Bündner Sprachlandschaft im Wandel

 

Es gibt wohl kaum eine Sprachlandschaft in der Schweiz, die so gut untersucht und dargestellt ist wie diejenige des Kantons Graubünden. Dies darf aber nicht erstaunen, denn gerade im dreisprachigen Graubünden, wo fünf einheimische Kulturen miteinander leben, sind die Sprachwissenschaftler auf eine Fundgrube vielgestaltiger und interessanter Sprachphänomene gestossen.

 

Dass in Graubünden rätoromanisch gesprochen wird, wissen die meisten Schweizer inzwischen. über die anderen sprachlichen Verhältnisse sind sie sich indessen im Unklaren. So hören die Bündner immer wieder Sympathie-Erklärungen wie: "Bündnerdeutsch ist schön!". Welche der drei traditionellen bündnerdeutschen Mundarten ist damit aber gemeint? Die Beantwortung dieser Frage verlangt zunächst eine kurze Darlegung der sprachgeographischen Grundstruktur.

Im Churer Rheintal herrscht eine Mundart vor, die als "Churer-Rheintalisch" bezeichnet werden könnte, und die bevölkerungsmässig vom Hauptanteil der Bündner Bevölkerung gesprochen wird.

In den von den Walsern besiedelten und kolonialisierten Gebieten stossen wir auf die Walserdialekte, die - wie der Name sagt - vom Walliser-Deutsch herrühren. Es handelt sich dabei vor allem um das Rheinwald, Prättigau, Schanfigg, Valsertal, Safiental und um die meisten deutschsprachigen Ortschaften, die über den Siedlungen der Rätoromanen entstanden sind, da sich die Walser bei ihrer Auswanderung meist in den von den Romanen wenig beanspruchten Höhenlagen niedergelassen haben.

Damit ergibt sich etwa für den Raum Thusis folgende Sprachschichtung: Thusis ist deutschsprachig (eine Art "Churerdeutsch" mit walserischen Einflüssen). Beim auf der linken Talseite liegenden Heinzenberg sind/waren die Dörfer in mittlerer Höhenlage romanisch, und die obersten Siedlungen am Heinzenberg sind ganz klar walserisch. Die rechte Talseite hingegen war ursprünglich romanisch, ist jetzt aber zum grossen Teil alemannisiert.

Damit aber ist die sprachliche Vielfalt der Deutschsprachigen noch nicht erschöpft. Im Samnaun, das um die Jahrhundertwende noch romanische Sprecherinnen und Sprecherkannte, ist inzwischen durch den kulturellen Austausch mit dem benachbarten Österreich eine südbairische  Mundart entstanden.

 

Die Situation des Rätoromanischen ist noch komplexer. Man unterscheidet grob fünf verschiedene Schreibformen (Sursilvan, Sutsilvan, Surmeir, Vallader und Puter), die meist als Idioms bezeichnet werden. Die gemeinsame Dachsprache, die offizielle vom Kanton für Gesetzeserlasse etc. verwendet wird, fand in der Bevölkerung nur beschränkt Anklang. In wenigen Schulen wird Rumantsch Grischun als Schreibsprache gelehrt. Andere Schulen sind wieder zu den Idioms zurückgekehrt. Die einzelnen Rätoromanen haben manchmal Mühe, andere nicht angrenzende romanische Dialekte und Idioms vollständig zu verstehen. Mit den elektronischen Medien aber ist das passive Hörverständnis für die jeweils anderen Idioms aber stark angestiegen. Insgesamt bezeichnen noch rund 36'000 Bündner oder 22 Prozent der Bevölkerung Graubündnes Rätoromanisch als Erstsprache. Schweizerisch sind es etwas mehr als 50'000.

In den Bündner Südtälern Bergell, Puschlav, Misox und Calanca wird eine alpinlombardische italienische Mundart gesprochen, der das Standarditalienisch als Schriftsprache übergeordnet ist (rund 22'200 Sprecher oder 13,5 Prozent).

Rund 98'700 oder 60 Prozent der Bündner sind deutschsprachig. 

Sämtliche Sprachen in Graubünden - ausser dem Churer-Rheintalischen - verfügen über kein in sich geschlossenes Territorium. Damit die Puschlaver mit den Bergellern reden können, müssen sie den Berninapass überwinden oder über das italienische Veltlin von Süden her ins Bergell gelangen. Die Reise ins Misox gar wird mit der Strecke Berninapass - Julierpass - Thusis - San Bernardino zur Tagesreise.

 

Sprachlicher Wandel vorprogrammiert

 

Aus der oben beschriebenen komplexen Situation zeigt sich, dass Sprachwandel in Graubünden quasi vorprogrammiert ist. Die Bemühungen um die Rettung des Rätoromanischen sind ins Blickfeld der schweizerischen Öffentlichkeit gelangt. Dabei sind die Probleme rund um die anderen Sprachgruppen etwas in den Schatten getreten. Auch die Walserdialekte  und das Italienische kommen unter zunehmenden Druck. Die Durchmischung der Bevölkerung, die Migration, die "Germanisierung" oder "Churerisierung" vom Churer Rheintal her, die Einflüsse der anderen Deutschschweizer Dialekte und der Schriftsprache, der hohe Anteil des Tourismus am Bruttosozialprodukt mit den Nebenfolgen, der mehrheitlich deutschsprachige Verwaltungsapparat in Chur - dies alles führt zu Verunsicherungen im Gebrauch der Muttersprache und zu Anpassungen und Abschleifungen. So wie sich das sozio-kulturelle Umfeld verändert hat, verändert sich auch die Sprache. Aus dem Deutsch, Romanisch und Italienisch der Bergbauern haben sich in relativ kurzer Zeit Sprachen ausgeformt, die der heutigen schnelllebigen Zeit genügen müssen.

 

Chur als Zentrum und Schmelztiegel

 

Und auch die Churer Mundart selbst, die in vielen Belangen die Funktion einer Orientierungshilfe angenommen hat, zeigt schon bei den "echten" Churern starke Veränderungen, wie einer neueren Studie entnommen werden kann. In Chur treffen alle Bündner Sprachgruppen zusammen, mischen sich mit anderen Schweizern und Fremdsprachigen. Und es stellt sich dann schnell einmal die Frage: Welche Sprache(n) sprechen denn all diese Leute? Auf welches Deutsch stützen sich die Romanen und die Vertreter Italienischbündens, wenn sie Deutsch sprechen? Welches ist die eigentliche Muttersprache eines Rätoromanen, der zu 90 Prozent (Churer-)deutsch spricht und Schriftdeutsch schreibt? Was für Satzstrukturen übernimmt ein Puschlaver in sein Deutsch, und wie wird sein Italienisch vom Churerdeutsch beeinflusst?

 

Anlehnung an Schriftsprache und schweizerdeutsche Dialekte

 

Für Chur hat sich gezeigt, dass die neue Situation Auswirkungen hat, die folgende Tendenzen aufweisen: Bei den "echten" ChurerInnen hat sich die Sprache vereinfacht und anpasst.

Die nicht deutschsprachigen Zuzüger nehmen in der ersten Generation meist eine Art Churerdeutsch an, das aber eine Vielzahl von Formen aus anderen Dialekten enthält. In der zweiten Generation ist die Anpassung "vollkommen".

Sowohl für die "echten" als auch für die "neuen" ChurerInnen gilt aber die Regel, dass Formen und Wörter, die zu sehr auffallen oder zu schwer verständlich sind in meist durch ein standardsprachliches Wort, das in der Lautung angepasst wird, oder durch ein anderes verbreitetes schweizerdeutsches Wort ersetzt werden. In der Churer Mundart haben Besonderheiten, die sowohl von der Schriftsprache als auch von anderen Schweizer Mundarten konkurriert werden, kaum Überlebenschancen. Als Beispiel sei nur etwa 'Zoora' oder 'Hoora' ('Zorn' bzw. 'Horn') angeführt, das beidseitige Konkurrenz aufweist. Romanische Reliktwörter haben meist nur in den Flurnamen und in der Menükarte überlebt.

 

Ausbildung regionaler Mundarten

 

Für das Domleschg und den Heinzenberg hat sich als Resultat einer gross angelegten Studie gezeigt, dass sich tendenzmässig eine Verschiebung ergibt von den lokalen Mundarten zu den regionalen Mundarten. Konnte man früher von Dorf zu Dorf klare Unterschiede ausmachen, lassen sich heute mehrere Dörfer zu einer regionalen Sprachgruppe zusammenfassen. Und als Spekulation sei noch angefügt: Diese Entwicklung verhindert einerseits die völlige Angleichung der Deutschbündner Mundarten an die restlichen Schweizer Mundarten. Andererseits wird langfristig vielleicht nur noch ein Einheits-Churer-Bündnerdeutsch gesprochen.

 

 

Dr.phil. Oscar Eckhardt